Chronik
Die Saison 1998/99, die 141. seit der Gründung des Chores im Jahre 1858, stand ganz im Zeichen des Neubeginnes. Der langjährige Leiter, Herbert Böck, der 9 Jahre lang die Wiener Singakademie geführt und geschult hatte, gab im Mai 1998 die Beendigung seiner Tätigkeit bei der Wiener Singakademie bekannt. Nach einem gemeinsamen Auswahlverfahren von Singakademie und Konzerthausgesellschaft wurde aus mehreren Bewerbern schließlich Heinz Ferlesch, der bereits in der Saison 1997/98 Assistent von Herbert Böck war, und nach dieser Zeit eine breite Zustimmung im Chor genoß, mit der Leitung der Wiener Singakademie betraut.
Noch im Juni fand sich eine Gruppe von Chorsängern zusammen, um gemeinsam mit Heinz Ferlesch die organisatorische Arbeit neu zu definieren und zu koordinieren. Wesentlicher Ansatzpunkt war die Werbung neuer Mitglieder, da der nicht sehr große Chorstamm mit dem Abgang von Herbert Böck weiter geschrumpft war. So konnte bereits im Sommer die neu geplante Mitgliederwerbung laufen und im Herbst Früchte tragen.
Bei der Generalversammlung am 20.10.1998 wurde der Wechsel in der Vereinsführung, der in der Praxis bereits vollzogen war auch vereinsrechtlich abgesegnet. Der erste Vizepräsident, Gerd Bähnk-Habersatter mußte aus beruflichen Gründen wieder in seine Heimatstadt Hamburg zurückkehren, und auch die zweite Vizepräsidentin, Ingrid Dinhobl konnte in der neuen Saison nicht mehr zur Verfügung stehen. So wurden Josef Hofstätter und Gudrun Rosenstingl, die bereits seit Juni die Umstrukturierung der Vorstandsarbeit federführend geleitet hatten, mit diesen Ämtern betraut. Gleichzeitig wurde der Gesamtwahlvorschlag mit einigen neuen Vorstandsmitgliedern von der Generalversamm-lung angenommen. Dr. Harald Sturminger, seit 1997 Präsident der Wiener Konzerthausgesellschaft, war damals Dr. Heinrich Haerdtl auch als Präsident der Wiener Singakademie nachgefolgt, und wurde nun in seinem Amt bestätigt.
Eine wesentliche Neuerung im organisatorischen Ablauf war, daß nun für die wesentlichen „Ressorts“ Arbeitsgruppen, sogenannte „Teams“ gebildet wurden, deren Leiter dann jeweils ein Vorstandsmandat bekleideten. Diese Neuordnung war auch deshalb nötig geworden, weil der Posten des Chormanagers, von der Konzerthausgesellschaft bereitgestellt, nach dem Ausscheiden von Konstantin Moritsch einvernehmlich nicht mehr nachbesetzt wurde.
Eine weitere Änderung vollzog sich auch im Finanzbereich. An die Stelle der Übernahme bestimmter Rechnungsposten durch die Konzerthausgesellschaft regte Generalsekretär Christoph Lieben-Seutter die Erstellung eines genauen Jahresbudgets an, was ab nun sowohl Singakademie als auch Konzerthaus die Möglichkeit gezielterer Kalkulationen gab.
Die erste künstlerische Herausforderung der Saison stellte sich für Heinz Ferlesch, der im Gegensatz zu seinen Vorgängern auf einen Assistenzchorleiter verzichtete, mit „Christnacht“ von Hugo Wolf und der Messe in C-moll von Robert Schumann. Eine Schwierigkeit zu Beginn dieser Arbeitsphase war, daß die erste Probe am 15. September noch mit etwa 40 Sängerinnen und Sängern bestritten werden mußte, doch wuchs die Anzahl sehr rasch an, und beim ersten Konzert im Dezember stand man bereits mit einer Hundertschaft auf der Bühne. Die zweite Schwierigkeit bestand darin, daß wegen der ersten Phase der Generalsanierung des Konzerthauses noch kein Probenraum im Haus zur Verfügung stand, und man sich deshalb vorerst mit Ausweichquartieren (Haus der Begegnung Mariahilf und Festsaal des Akademischen Gymnasiums) begnügen mußte. Jedoch am 20. Oktober war es wieder möglich, ins Konzerthaus einzuziehen, wo schon bald wieder der Schönberg-Saal zur gewohnten Heimat wurde.
Bereits die erste Hürde konnte nun wesentlich besser als angenommen überwunden werden, und das Konzert am 20. Dezember mit dem Radiosymphonieorchester Wien unter Dennis Russel Davies rief ein äußerst positives Echo hervor.
Für die traditionellen Silvesteraufführungen mit Beethovens 9. Symphonie wurde die Idee umgesetzt, auch andere Chorsänger aus dem Umfeld der Singakademie zu diesem Projekt einzuladen. Der Partnerchor der letzten Jahre, der Concentus Vocalis, stellte auch noch einmal einige Sänger für dieses Projekt, und so konnte die „erweiterte Singakademie“ das beeindruckende Aufgebot von 150 Sängerinnen und Sängern präsentieren. Der Dirigent Vladimir Fedosejew mußte krankheitshalber absagen, und mit dem Einspringer Martin Sieghart stand ein Mann am Pult, der davor schon gerne mit der Singakademie zusammengearbeitet hatte. Diese Silvester-Konzerte waren für beide Seiten eine willkommene Auffrischung dieser Beziehung, die sich bald weiter fortsetzen sollte.
Mit der Johannespassion von J.S. Bach stellte sich ein Problem, das man so schnell nicht erwartet hatte: für eine sinnvolle Aufführung dieses Werkes am 16. März mußte die Chorgröße reduziert werden, doch auch hier fand Heinz Ferlesch eine neue Lösung für die nicht beschäftigten Chorsänger: Gemeinsam mit Andreas Salzbrunn rief er eine „Chorakademie“ ins Leben, die einmal wöchentlich musikalisches Grundwissen vermittelte oder Übungsmöglichkeiten bis hin zum Dirigieren anbot. Nach der Aufführung der Johannespassion sollte dieses Projekt, das in seinem Sinn an die Wurzeln der Wiener Singakademie zurückreicht, schließlich allen Sängern offenstehen.
Diese Passion sollte ursprünglich vom ehemaligen Chorleiter der Singakademie, Herbert Böck, dirigiert werden, wurde jedoch schließlich von Seiten des Konzerthauses dem englischen Barockfachmann Nicholas McGegan anvertraut. Für Chor und Orchester (Akademie St. Michael) war dies eine wertvolle neue Begegnung, weil McGegan nicht nur mit viel (feinem) Humor, sondern vor allem mit sehr überzeugender musikalischer Kompetenz zu faszinieren wußte.
Bevor der arbeitsaufwendige Saisonhöhepunkt, Franz Schmidts „Buch mit sieben Siegeln“ ins Haus stand, wurde die Singakademie eingeladen, beim Benefizkonzert „Ein Fest für das Konzerthaus“ mitzuwirken. Im zweiten Teil auf die Bühne gekommen, bot sich nach zwei heiteren Chören von Adolf Müller und Jacques Offenbach als Höhepunkt das seltene Spektakel eines gemeinsamen Auftrittes der Singakademie mit allen Konzerthausmitarbeitern in dem Kanon „Im Konzerthaus geht das Licht aus“, dirigiert von Heinz Ferlesch.
In Anbetracht des großen Probenpensums, das für Franz Schmidts „Buch“ zu bewältigen war, stand Heinz Ferlesch für dieses Projekt der ehemalige Kapellmeister der Wiener Sängerknaben, Thomas Böttcher, der auch schon in den Jahren 1989 bis 1991 Herbert Böck assistiert hatte, zur Seite. Als Gemeinschaftsproduktion mit dem Widmungsträger dieses Werkes, dem Wiener Singverein, stellte dieses Werk für die natürlich immer noch im Aufbau befindliche Singakademie eine hohe Herausforderung dar, zählt es doch zu dem Schwierigsten, was man einem Laienchor zumuten darf. Auch hier konnte sich der Chor zu einer beachtlichen Leistung aufschwingen, die sowohl beim Partner Wiener Singverein als auch bei Publikum und Presse Bewunderung hervorrief.
Ein bewegender Abschluß eines außerordentlich arbeitsreichen Jahres.